Berichte 2020

Gendermedizin

Das Thema Gendergerechte Medizin hat am USZ einen hohen Stellenwert. In Forschung und Klinik berücksichtigt das USZ geschlechtsspezifische Unterschiede, behandelt Menschen mit Genderdysphorie und geht auf die individuellen Bedürfnisse ein. Zum Beispiel galt die axiale Spondyloarthritis lange als Männerkrankheit – mit Folgen für betroffene Frauen.

Adrian Ciurea, Rheumatologe und axSpA-Spezialist am USZ, gibt Auskunft über die geschlechterspezifische Diagnostik und Behandlung der Krankheit.

Herr Prof. Ciurea, axiale Spondyloarthritis (axSpA) galt lange Zeit als «Männerkrankheit». Warum?

Die Ankylosierende Spondylitis, auch Morbus Bechterew genannt, als schwere Form der axialen Spondyloarthritis, galt als Männerkrankheit. Frauen entwickeln weniger häufig diese schwere Form, welche zur Verknöcherung und Versteifung der gesamten Wirbelsäule führen kann. Diese auf Röntgenaufnahmen sichtbaren Veränderungen gelten aber als Spätfolgen und sind nicht hilfreich, um die Diagnose im Frühstadium zu stellen. Während man in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts noch davon ausging, dass das Geschlechterverhältnis 10:1 ist, gehen wir aktuell bei dieser schweren axSpA Form immer noch von einem Verhältnis Männer:Frauen von 3:1 aus.

Was leitete die weitere Veränderung der Sicht auf die Krankheit ein?

Das Aufkommen der Magnetresonanztomographie (MRI) zeigte entzündliche Veränderungen am Achsenskelett auf, welche schliesslich mit einiger Verzögerung – durch überschiessende Reparaturvorgänge – zu überbrückenden Verknöcherungen der Iliosakralgelenke und einzelner Wirbelkörper führen. Die MRI erlaubt nun dem Rheumatologen im Kontext der angegebenen Beschwerden, der erhobenen klinischen Befunde und von Laborbefunden eine Frühdiagnose, lange bevor Veränderungen im Röntgen sichtbar sind. In diesem sogenannten nicht-röntgenologischen Stadium der axSpA ist das Verhältnis der Geschlechter 1:1.

Welche Folgen hatten die neuen Erkenntnisse?

Es war nun offensichtlich, dass sich die axSpA verschieden zeigen konnte und viel mehr Frauen betraf als angenommen. Auch wurde klar, dass die nicht-röntgenologische axSpA nicht nur als Frühform der ankylosierenden Spondylitis gelten darf, sondern dass Betroffene über das ganze Leben in diesem Stadium bleiben können. Dies scheint deutlich häufiger bei Frauen der Fall zu sein, als bei Männern. Es darf hier nicht der Eindruck entstehen, dass Frauen insgesamt einen milderen Verlauf der axSpA haben. Dies gilt nur hinsichtlich der nachweisbaren entzündlichen Aktivität (MRI, Labor) und der Tendenz zur Verknöcherung. In Bezug auf die Intensität der Rückenschmerzen und der Schmerzen an den Extremitäten (Gelenke und Sehnenansätze), auf die funktionellen Einschränkungen im Alltag und die deutliche Reduktion der Lebensqualität sind Frauen mindestens so stark betroffen wie Männer.

Wie wirkte sich diese Erkenntniskette auf die Behandlungsqualität der Frauen aus?

Die Wahrnehmung der Frauen als eigene Patientengruppe hat sich dadurch verändert. Bei Frauen verzögert sich die Diagnose und somit der Therapiebeginn im Durchschnitt aber weiterhin um mindestens ein Jahr. Auch wenn man für diesen Unterschied adjustiert, stellt man leider fest, dass Frauen generell schlechter auf eine Behandlung ansprechen als Männer. Erstaunlicherweise ist auch das Ansprechen bei der nicht-röntgenologischen Form nicht besser als bei der ankylosierenden Spondylitis, obwohl diese früher festgestellt wird. Dies wurde wiederholt in klinischen Studien von verschiedenen Biologika bei axSpA, wie auch in verschiedenen Patientenregistern, u.a. auch im Schweizerischen nachgewiesen.

Wo liegt eigentlich das Problem?

Leider haben es die grossen Pharmafirmen verpasst, die randomisierten Studien so zu gestalten, dass eine genügende Aussagekraft bezüglich der angenommenen therapeutischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen vorliegt. Ein noch grösseres Problem liegt hinsichtlich der Spezifität der entzündlichen Veränderungen im MRT vor. Neuere Studien zeigen, dass kleinere Veränderungen als sehr unspezifisch gelten müssen und auch durch mechanischen Reiz bei unterschiedlichen Belastungen (Fehlbelastungen, Sport, Militärdienst, Schwangerschaft) auftreten können. Wir haben somit das Problem von potentiellen Falschdiagnosen, wenn der Fokus allein auf die MRT gestellt wird.

Wie lässt sich die Behandlungsqualität verbessern?

Es wird neu definiert werden müssen, was eine positive MRT für die axSpA-Diagnose ausmacht. Die MRT ist nur ein zwar wichtiges Puzzle-Teil in der Diagnostik, erlaubt aber oft nicht allein eine Diagnosestellung. Je grösser die Ausweitung und die Intensität der Entzündung im MRT, desto besser wird aber das Ansprechen auf die anti-entzündliche Therapie sein. Grundsätzlich wird man Frauen nicht anders behandeln als Männer. Man wird aber die Auswahl der Personen, welche eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein gutes Ansprechen haben, besser treffen können – unabhängig davon, welches Geschlecht sie haben. Umso wichtiger erscheint auch der Austausch zwischen Rheumatologen und Radiologen über die neuesten Erkenntnisse. Dazu trägt das Patientenregister bei, das wir seit 2005 im Rahmen des Swiss Quality Management in Rheumatic Diseases führen und das für unsere bisherige Forschung und weitere Fortschritte die Basis bildet.